Offener Brief an die Fraktionen der Regierungskoalition
Stärkung der Arbeitnehmer:innenrechte in diakonischen Unternehmen
Abschaffung des „kirchlichen Arbeitsrechts“
Sehr geehrter Arbeitsminister Heil,
sehr geehrte Fraktionsvorsitzende Dröge,
sehr geehrte Fraktionsvorsitzende Haßelmann,
sehr geehrter Fraktionsvorsitzender Dürr,
sehr geehrter Fraktionsvorsitzender Dr. Mützenich,
sehr geehrte Damen und Herren,
mit diesem offenen Brief nehmen wir Bezug auf unser Schreiben vom 07. Februar 2022.
Wir möchten deutlich machen, warum es nach dem gescheiterten Versuch, die Regelungen der Evangelischen Kirche an das weltliche Arbeitsrecht anzunähern, nun geboten ist, dass der Gesetzgeber dafür sorgt, dass staatlich garantierte Rechte der Beschäftigten und Pflichten der Arbeitgeber auch in diakonischen Unternehmen, Konzernen und Aktiengesellschaften zur Anwendung kommen müssen.
In den Wahlprogrammen haben Ihre Parteien die Reformierung des kirchlichen Arbeitsrechts angekündigt. Dem Koalitionsvertrag ist zu entnehmen, dass Sie gemeinsam mit den Kirchen prüfen, inwieweit das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann.
In dem nun durchgeführten Dialogprozess haben alle Teilnehmenden ihre Positionen zum „kirchlichen Arbeitsrecht“ bekräftigen können. Da jedoch vereinbart wurde, dass es keine Protokolle dieser Gespräche geben wird und keine Inhalte dieses Dialogprozesses veröffentlicht werden, befürchtet die Bundeskonferenz, dass damit lediglich dem Koalitionsvertrag genüge geleistet wurde.
Als Spitzenorgan der Mitarbeitervertretungen im Bereich der Diakonie ist die Bundeskonferenz die Interessenvertretung der 16 Arbeitsgemeinschaften und Gesamtausschüsse und damit indirekt die Interessenvertretung aller Mitarbeitervertretungen diakonischer Unternehmen. Die Mehrheit dieser Vertretungen fordern seit Jahren, gemeinsam mit den Beschäftigten und der Gewerkschaft ver.di, die Stärkung der Arbeitnehmer:innenrechte und der betrieblichen Mitbestimmung in diakonischen Unternehmen.
Diakonische Unternehmen und Konzerne verhindern seit Jahren diese Stärkung der Arbeitnehmer:innenrechte. Verantwortlichen der Evangelischen Kirche gelingt es nicht, gegen die Macht der großen Diakonischen Arbeitgeber, die sich im „Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland“ (VdDD) zusammengeschlossen haben, die für notwendig befundenen Reformen der kirchlichen Regelungen durchzusetzen. Die Abschaffung der kirchenrechtlichen Privilegien in diakonischen Unternehmen, Konzernen und Aktiengesellschaften hinsichtlich des Arbeitsrechts und der betrieblichen Mitbestimmung ist darum überfällig.
Wir möchten Ihnen anhand der folgenden Beispiele veranschaulichen, warum die aktuellen Novellierungen der kirchlichen Regelungen die Schieflage des kirchlichen Arbeitsrechts nicht verringert, sondern noch verstärkt haben.
So ist die Richtlinie des Rates über Anforderungen an die berufliche Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie geändert worden. Diese Änderung führt jedoch nicht zu mehr Klarheit, sondern zu einer weiteren Ungleichbehandlung der Beschäftigten.
Grundsätzlich sind die Parteien eines Arbeitsverhältnisses gehalten, auf die im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehenden Interessen des jeweils anderen Vertragspartners Rücksicht zu nehmen. Diese Grundsätzlichkeit ist aus Sicht der Bundeskonferenz für diakonische Unternehmen ausreichend. Erhöhte Anforderungen an Beschäftigte der Diakonie, die auch noch mit der Drohung einer Kündigung versehen sind, braucht es aus Sicht der Bundeskonferenz nicht.
Gemäß der novellierten Fassung sind nun diakonische Arbeitgeber aufgefordert zu entscheiden, welche Mitarbeiter:innen der Kirche angehören müssen und welche nicht. Es ist zu befürchten, dass es in Zukunft in diakonischen Unternehmen zweierlei Gruppen von Arbeitnehmer:innen geben wird. Die, in deren Stellenbeschreibung die Tätigkeit „Verantwortlich für das diakonische Profil“ aufgenommen ist und die somit evangelischen Glaubens sein müssen und die, die nur mitarbeiten. Es ist mindestens fraglich, ob eine derartige Festlegung noch als Wahrnehmung der den Religionsgesellschaften zustehenden Rechte aus Art. 140 GG angesehen werden kann. Es obliegt allein der Religionsgesellschaft, deren Anforderungen festzulegen. Einrichtungen der Diakonie können dieses übernehmen, oder werden ggf. satzungsgemäß dazu verpflichtet. Eine eigene Anforderung zu begründen steht den Geschäftsführungen und Vorständen diakonischer Unternehmen allerdings nicht zu.
Auch das Kirchengesetz zur Änderung des Mitarbeitervertretungsgesetzes der Evangelischen Kirche in Deutschland (MVG-EKD) führt nicht zu einer Stärkung der Rechte der Interessenvertretungen.
Grundsätzlich ist die Bundeskonferenz der Auffassung, dass in diakonischen Unternehmen, Konzernen und Aktiengesellschaften die gleichen Rechte gelten müssen, wie in weltlichen Unternehmen, Konzernen und Aktiengesellschaften. Die Anwendung staatlicher Standards in diakonischen Einrichtungen und Unternehmen ist dafür die Voraussetzung.
Die Gestaltung einer zukunftsfähigen Mitbestimmung ist unter anderem Aufgabe und Ziel der Bundeskonferenz. Das Mitarbeitervertretungsgesetz versagt den Mitarbeitervertretungen aber wesentliche Rechte. Dies gilt insbesondere hinsichtlich
- eines einfachen und wirksamen Mitbestimmungsverfahrens
- eines wirksamen Initiativrechts der Mitarbeitervertretung
- der Begrenzung der Zuständigkeit der Einigungsstelle
- der den Mitarbeitervertretungen zustehenden Ressourcen (z.B. Freistellung)
- der Mitbestimmungstatbestände, die den großen Umwälzungen gerecht werden, also erweiterte Mitbestimmung bezüglich der Qualifizierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, bezüglich des Umweltschutzes, bei Betriebsänderungen u.v.m.
- der gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten
Das arbeitgeberfreundliche, überformalisierte Verfahren der Mitbestimmung behindert eher die Mitbestimmung, als dass es sie fördert.
Die nun vollzogene Novellierung wird den Anforderungen einer Anpassung an staatliches Recht und einer zukunftsfähigen Mitbestimmung bei weitem nicht gerecht. Im Gegenteil, es ist festzustellen, dass bestehende Rechte der Mitarbeitervertretung weiter eingeschränkt und die der Unternehmensleitungen obliegenden Pflichten gemindert werden.
Beispiel: Einigungsstelle
Der Novellierungsvorschlag schafft keine Klärung der missglückten Einführung der Einigungsstelle. Dabei ist sie ein Kernpunkt der betrieblichen Mitbestimmung. Wirkliche Mitbestimmung ist aber offensichtlich nicht gewünscht. Die Zuständigkeit der Einigungsstelle ist auf soziale Angelegenheiten begrenzt, alle anderen Regelungsstreitigkeiten müssen weiterhin vor Kirchengerichten verhandelt werden. Die Gliedkirchen können gemeinsame Einigungsstellen für mehrere Dienststellen schaffen. Zudem macht die Einigungsstelle bei Initiativen der Mitarbeitervertretung lediglich einen unverbindlichen Vermittlungsvorschlag. Ihren Zweck kann die Einigungsstelle so nicht erfüllen.
Beispiel: Bruttolohnlisten
Der Kirchengerichtshof der EKD hatte bereits am 05.12.2016 festgestellt, dass die Aushändigung der Bruttolohnlisten an die Mitarbeitervertretung zweimal im Jahr erforderlich ist, damit diese ihrem Überwachungsauftrag nachkommen kann.
Der Kirchengerichtshof der EKD führt in seiner Begründung aus:
„Ob eine Entgeltordnung „eingehalten“ wird, kann nur anhand eines Abgleichs der geschuldeten mit den tatsächlich erfolgten Zahlungen an die Mitarbeiter/-innen festgestellt werden, dies setzt die Aushändigung der streitbefangenen Liste voraus. Unabhängig davon hat die Mitarbeitervertretung nach § 40 Buchstabe m) MVG-EKD ein Mitbestimmungsrecht in Bezug auf die Grundsätze für die Gewährung von Unterstützung oder sonstigen Zuwendungen, auf die kein Rechtsanspruch besteht. Vorliegend zahlt die Dienststellenleitung Zulagen und Zuwendungen aus unterschiedlichen Anlässen über die in der Vergütungsordnung geregelten Tatbestände hinaus. Es ist Aufgabe der Mitarbeitervertretung, insoweit auf die Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu achten und ein etwaiges Mitbestimmungsrecht aus § 40 Buchstabe m) MVG-EKD geltend zu machen. Dieser Aufgabe kann sie nur nachkommen, wenn sie die Bruttolohnlisten, die im Einzelnen ausweisen, an wen welche konkrete Zahlung auf welcher Rechtsgrundlage getätigt wird, auswerten kann.“
Entgegen dieser auf arbeitsrechtlicher Kenntnis und Erfahrung des Gerichts beruhenden Feststellung ist das Recht der Mitarbeitervertretung durch die Novellierung des MVG dahingehend eingeschränkt worden, dass nur zweimal jährlich, zwei Mitgliedern der Mitarbeitervertretung, ein Einsichtsrecht gewährt wird. Auch brauchen diese Listen nur noch die Grundentgelte und die in Monatsbeträgen festgelegten Zulagen enthalten. Einmalzahlungen oder andere nicht in Monatsbeträgen gezahlten Zulagen sind nicht mitzuteilen.
Mit dieser Änderung wird das Kontrollrecht der Mitarbeitervertretung ausgehebelt, die Rechtsprechung missachtet und die MAV bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben behindert.
Diese Änderung dient allein dem Arbeitgeberinteresse. Offensichtlich soll möglichst unbemerkt ermöglicht werden, einzelnen Beschäftigtengruppen unter Umgehung der tarifvertraglichen Anforderungen
oder derjenigen, die sich aus den kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen ergeben, höhere Vergütungen zu zahlen. Damit soll offensichtlich die Abkehr von der Bindung an kirchliches Arbeitsrecht verschleiert werden.
Beispiel: Unternehmensmitbestimmung
Die seit Jahren bestehende Forderung nach einer Unternehmensmitbestimmung findet mit der aktuellen Novellierung zwar Einzug ins Mitarbeitervertretungsgesetz, aber für die Umsetzung ist dem Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung (EWDE) ein Zeitfenster bis 2028 eingeräumt worden. Um eine „verbindliche“ verbandliche Regelung zu schaffen, soll eine Arbeitsgruppe eingerichtet werden. Eine verbandliche Regelung kann aber nicht verbindlich sein. Dazu braucht es vielmehr ein Kirchengesetz. Eine Beteiligung der Vertretung der Mitarbeitenden, also der Bundeskonferenz, an der Arbeitsgruppe des EWDE ist nicht vorgesehen. Bereits seit 2012 verhindern diakonische Arbeitgeber eine verpflichtende Unternehmensmitbestimmung. Wann es eine verpflichtende Unternehmensmitbestimmung im Bereich der Diakonie gibt, bleibt also weiter abzuwarten.
Beispiel: Kündigungsschutz
Fassungslos haben die Delegierten der Bundeskonferenz die Lockerung des Kündigungsschutzes der Mitarbeitervertreter:innen zur Kenntnis genommen.
Die jetzt beschlossene Regelung führt dazu, dass eine rechtssichere Ablehnung der Mitarbeitervertretung nach mündlicher Erörterung innerhalb von drei Tagen erfolgen muss. Wird diese Frist nicht eingehalten, gilt die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung eines Mitgliedes der Mitarbeitervertretung als erteilt. Für diese Änderung gibt es nicht einmal einen Bedarf. Denn nach endgültiger Zustimmungsverweigerung, unabhängig von einer Frist, muss das Kirchengericht angerufen werden, um die Zustimmung ggf. zu ersetzen. Dies ist keinesfalls innerhalb der Frist gem. § 626 BGB möglich. Diese Frist des BGB kann also nicht die Begründung sein.
Einziges Ziel dieser Änderung kann es aus Sicht der Bundeskonferenz nur sein, die Handlungsmöglichkeiten der Mitarbeitervertretung unangemessen zu beschränken, um starke, wirksame Mitarbeitervertreter:innen zu schwächen.
Mit der aktuellen Novellierung wird das System der kirchlichen Mitbestimmung immer erkennbarer: Der kirchliche Gesetzgeber ebnet den Arbeitgebern den Weg, erschwert oder verhindert gar die Wahrnehmung der Aufgaben der Mitarbeitervertretung und/oder belastet Sie mit weiteren Erklärungspflichten.
Es fehlt der Ev. Kirche entweder an der Bereitschaft oder der Fähigkeit, die strukturellen Defizite Beschäftigter gegenüber den Arbeitgebern auszutarieren. Es gibt keinen sachlichen Grund, keine christliche oder theologische Begründung dafür, dass Interessenvertretungen in diakonischen Einrichtungen, Unternehmen und Aktiengesellschaften weniger Rechte haben, als in weltlichen Einrichtungen, Unternehmen und Aktiengesellschaften.
Die EKD entfernt sich mit der aktuellen Novellierung des MVG-EKD weiter vom mitbestimmungsrechtlichen Standard in Deutschland. Der Anspruch, durch Mitbestimmung Grundrechte auch im Arbeitsleben wirksam werden zu lassen, wird von der Ev. Kirche weiter ignoriert. Und dies obwohl angesichts von Arbeitskräftemangel, ökonomischen Druck und den noch unabsehbaren Folgen der Digitalisierung wirksame Teilhabe nicht nur demokratischen Anforderungen entspricht – die wirksame Teilhabe von Mitarbeiter:innen sollte vielmehr Ausdruck eines die diakonische Arbeit prägenden Leitbildes sein. Stattdessen werden die Beschäftigten zunehmend diskriminiert. Diese Diskriminierung muss nun ein Ende haben.
Der staatliche Gesetzgeber kümmert sich um soziale Gerechtigkeit. Die wichtigsten Bereiche der sozialen Gesetzgebung sind neben der Steuergesetzgebung, die Sozialversicherung und die Arbeitsgesetzgebung. Da die Ev. Kirche offensichtlich nicht gewillt, oder nicht in der Lage ist, die Diskriminierung im Mitarbeitervertretungsrecht zu beseitigen, ist nun die Politik gefordert über eine Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes dafür zu sorgen, dass in diakonischen Unternehmen mindestens die Rechte gelten, wie die der staatlichen Betriebsverfassung.
Als Vorlage könnte der Art. 91 der DSGVO dienen. So könnte bei einer Novellierung des BetrVG der § 118 Abs. 2 wie folgt geändert und Abs. 3 eingefügt werden.
BetrVG § 118
(1) …
(2) Wenden Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen eigene betriebsverfassungsrechtliche Regelungen an, so dürfen diese Regelungen weiter angewandt werden, sofern sie mit den Standards dieses Betriebsverfassungsgesetzes in Einklang gebracht werden. Zuständig bei Streitigkeiten über den Einklang ist die Arbeitsgerichtsbarkeit.
(3) Dieses Gesetz findet keine Anwendung auf den liturgischen Bereich der Religionsgemeinschaften.
Wir freuen uns über eine Rückmeldung und stehen für Gespräche gerne zur Verfügung.